Leseprobe


Als Taro Yagur im Alter von zwanzig Jahren seine Ausbildung abgeschlossen hatte, kehrte auch Antinia nach Tanybur zurück. Sie war gerade ein knappes Jahr älter als er. Roskane hatte sich diesen Tag lange herbeigesehnt, doch Antinia war über ihre Rückkehr zunächst gar nicht erfreut. Alle ihre Freundinnen und Freunde, mit denen sie die letzten Jahre verbracht hatte, lebten in Maratena. Tanybur war für sie eine fremde Stadt. Zwar hatte man ihr die Sprachen beider Städte beigebracht, aber sie war im Umgang mit der maratener Sprache versierter. Die ersten Tage wäre sie am liebsten sofort wieder nach Maratena zurückgekehrt. Roskanes ursprüngliche Idee, die dem Austausch von Geiseln zwischen Tanybur und Maratena zugrunde lag, hatte also Früchte getragen. Antinia würde wohl kaum auf den Gedanken kommen, einen Krieg gegen Maratena zu beginnen.

Ihre schlechte Laune hellte sich erst auf, als sie Taro Yagur das erste Mal sah. Sie war hin und weg von diesem kräftigen jungen Mann mit seinem markanten Gesicht und den dichten hellbraunen Haaren. Sie musste ständig zu ihm hinschauen – zumindest dann, wenn er gerade in eine andere Richtung blickte.

Taro Yagur indes machte keinerlei Anstalten, Antinia näher in Augenschein zu nehmen. Er hatte als angenommener Sohn der Königin und zudem als gut aussehender junger Mann genug Verehrerinnen, die ihn nur allzu gerne eingefangen hätten. Antinia entsprach auch nicht unbedingt dem Schönheitsideal der tanydischen Männer. Sie hatte ein noch sehr mädchenhaftes Gesicht und kurze, aber dichte dunkelbraune Haare, die ihr etwas Freches verliehen. Dazu passte ihre Art, gelegentlich mit vorlauten Bemerkungen aufzufallen.

Antinia überlegte, wie sie Taro Yagur näher kennenlernen konnte. Und schon bald wusste sie, wo er häufig anzutreffen war. Taro Yagur trainierte jeden Tag mit seinen Waffen auf einem Platz, der zu Batakus Schule gehörte. Eines Tages machte sich Antinia auf den Weg dorthin. Sie schaute ihm eine Weile zu, dann trat sie an ihn heran und sagte zu ihm: »Hast du Lust auf einen kleinen Kampf. Nur wir beide?«

Taro Yagur machte ein ungläubiges Gesicht. »Du willst mit mir kämpfen?«

»Ja.« erwiderte sie lächelnd.« Taro Yagur schaute sie von oben bis unten an und dabei bemerkte er, wie kräftig ihr Körper gebaut war.«

»Gut«, sagte er dann. »Hier hast du einen Trainingsstock.« Diese dünnen Holzstöcke sollten eine tanydische Kampfkeule aus Holz, Leder und Bronze simulieren, aber keine schweren Verletzungen verursachen. »Kämpfen wir also eine Runde.«

Antinia lächelte noch immer. Doch kaum hatte der Kampf begonnen, wurde aus dem Mädchen plötzlich eine Kriegerin. Sie lächelte jetzt nicht mehr, ihr Blick war konzentriert. Taro Yagur spürte einen stechenden Schmerz – Antinia hatte ihren Stock direkt auf seine Wange platziert. Er wusste im ersten Moment nicht, wie er darauf reagieren sollte. Bei einem Mann hätte er sofort zurückgeschlagen. Doch dann besann er sich und startete seinen Gegenangriff, so dass Antinia längelang in den Staub fiel. Sie kam schnell wieder auf die Beine und zahlte es Taro Yagur mit einer schnellen Schlagkombination heim.

So etwas hatte er noch nicht erlebt. Und je mehr er sich wunderte, desto öfter bekam er den Stock Antinias zu spüren.

Er sagte leise zu sich selbst: »Konzentriere dich.« Dann schlug er zurück. Antinia flog im hohen Bogen durch die Luft, doch sie landete sanft wie eine Katze auf den Boden. Und so ging es weiter, bis sie beide vollkommen außer Atem und schweißnass waren. Ihre ansonsten typisch helle tanydische Hautfarbe hatte sich zumindest im Gesicht in ein glühendes Rot verwandelt.

Taro Yagur legte seinen Stock beiseite und reichte Antinia einen Krug Wasser, den sie in einem Zug austrank. Dann sagte er zur ihr: »Du bist wirklich gut. Ich habe noch nie einen Krieger so gut kämpfen sehen wie dich – meinen Lehrer Bataku vielleicht ausgenommen.«

Antinia strahlte ihn an. Ein schöneres Kompliment hätte er ihr nicht machen können.

»Wo hast du so gut kämpfen gelernt?« fragte er sie.

»Ich hatte einen guten Lehrer in Maratena.« antwortete Antinia. »Eigentlich wollte er mich nicht trainieren, weil ich eine Frau bin und Frauen nicht zum kämpfen da seien, wie er meinte. Doch ich habe so lange gedrängelt, bis er schließlich nachgab.«

Von da an trainierten Antinia und Taro Yagur fast täglich miteinander und dabei kamen sie sich immer näher. Roskane beobachte die beiden mit großer Freude. Sollte ihr Wunsch doch noch in Erfüllung gehen? Nur Uru Sandar gefiel diese Entwicklung überhaupt nicht. Sein Traum von der Macht verblasste immer mehr.

Als Roskane sah, dass Antinia und Taro Yagur jeden Tag miteinander verbrachten und ihre Blicke und Gesten auch jedem Außenstehenden verrieten, was sie fühlten, holte sie die beiden eines Tages zu sich, um ihnen ihre Plänen für die Zukunft zu verkünden.


Roskane war Anfang vierzig und alleine. Bei der Regierung Tanyburs musste sie sich teilweise auf Berater verlassen, die ihre eigenen Interessen verfolgten. Sie wusste wie fragil diese Konstellation war. Und dass Norik nach über zwanzig Jahren doch noch irgendwann zurückkehrte, war so gut wie ausgeschlossen. Sie überlegte lange, was das Beste für die Stadt sein würde.

Sie hätte sich mit Uru Sandar zusammentun können, der ihr ja immer wieder Avancen machte. Doch ihre Ansichten lagen in vielen Dingen zu weit auseinander. Uru Sandar ging es vor allem um die Macht. Wahrscheinlich wäre es mit ihm auch zu einem neuen Krieg mit Maratena gekommen. Es machte kein Geheimnis daraus, dass er mit der Aussöhnung von Roskane und Timaro nicht einverstanden gewesen war.

Mit Gotimar hatte sich Roskane noch nicht näher beschäftigt, da er erst viel später Interesse an ihr bekundete. Allerdings war er schon von seinem Äußeren her nicht gerade ihr bevorzugter Typ.

Sanordi kannte sie schon eine Ewigkeit, aber sie wusste so gut wie nichts über ihn. Er lächelte immer und war nie unfreundlich. Doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass sein Gesicht nur eine schöne Fassade war. Was sich dahinter verbarg, wusste niemand. Hatte er je etwas Persönliches von sich preisgegeben? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Auch Norik hatte nie viel über ihn gesprochen. Und als dann seine Frau nach einem üppigen Essen plötzlich zusammenbrach und starb, machte sie sich zunächst keine Gedanken. Es kam immer mal wieder vor, dass Menschen an verdorbenen Lebensmitteln starben oder sich einfach hoffnungslos überfraßen. Besonders Fleisch und Fisch waren bekannt dafür, dass sie schon nach kurzer Zeit tödliche Gifte entwickeln konnten.

Als Sanordi jedoch kurz nach dem Tod seiner Frau um ihre Hand anhielt, sah sie eines nachts im Traum sein lächelndes Gesicht vor sich. Nach einer Weile verwandelte sich das Lächeln ganz allmählich erst in ein Grinsen und dann in eine verzerrte Fratze. Plötzlich lief die Flüssigkeit aus den Augen heraus und tropfte auf die Wangen hinunter, bis nur noch zwei leere, dunkle Augenhöhlen übrig blieben. Roskane wachte schweißgebadet aus ihrem Traum auf. War das das wahre Gesicht Sanordis?

Roskane wusste, dass keiner der drei Freier für sie in Frage kam. Und so verkündete sie Antinia und Taro Yagur schließlich ihre Entscheidung: »Ihr werdet als meine Nachfolger König und Königin von Tanybur sein.« Als sie die entsetzten Blicke der beiden sah, fügte sie schnell hinzu: »Keine Angst. Nicht heute und nicht morgen. Ihr bekommt genug Zeit, um euch auf diese zweifelsohne schwierige Aufgabe vorzubereiten.«

Taro Yagur und Antinia mochten gute Kämpfer sein, eine Stadt von der Größe Tanyburs und den zahlreichen dazugehörigen Orten im Umland zu regieren, war jedoch eine andere Dimension.

Als Uru Sandar von Roskanes Entscheidung erfuhr, saß er eine ganze Weile fast unbeweglich auf einem Sitzblock in seinem Haus. Er wusste, dass er nun handeln musste. Oder er fand sich mit seiner Rolle als ewiger Berater ab. Doch was konnte er tun? Sein Einfluss auf Roskane war nur noch sehr gering. In den letzten Jahren hatte sie nach und nach immer mehr Entscheidungen alleine oder mit Hilfe anderer Berater getroffen, ohne ihn um seinen Rat zu fragen. Erst recht als sie merkte, welches Ziel er mit seinen wiederholten Annäherungsversuchen verfolgte. Und sie war die rechtmäßige Königin. Noch, dachte er sich.

Gotimar ging seiner Arbeit weiterhin außerordentlich gewissenhaft nach und ließ sich nicht anmerken, was er von Roskanes Entscheidung hielt. Nur einmal machte er einigen Freunden gegenüber eine seltsame Bemerkung. Er sprach von Schädlingen, die bekämpft werden müssen, bevor sie die Pflanzen befallen und die Ernte vernichten. Allerdings hatte er da schon einige Becher Wein getrunken. Und am nächsten Morgen konnte sich kaum noch jemand an irgendwas erinnern.

Sanordi, der sich als Mitglied der königlichen Familie weitestgehend dem Müßiggang hingab und nur selten bei den offiziellen Terminen der Königin erschien, verschwand bald darauf spurlos. Anscheinend hatte er die Stadt verlassen. Vielleicht lebte er nun in einem der kleineren Dörfer, die Tanybur umgaben oder in den Wäldern von Vandenmor. Es interessierte auch niemanden besonders. Sanordi war immer ein Eigenbrötler gewesen, der sich mit merkwürdigen Dingen beschäftigte. Oft stand er ganze Nächte draußen auf den Hügeln vor Tanybur und beobachtete die Sterne. Was er dort suchte oder sah, hatte er nie jemanden erzählt. Aber er schrieb alles auf. Man erzählte sich auch, dass er sich hervorragend mit Pflanzen auskannte und wusste, was man alles aus ihnen herausholen konnte. Doch sein Wissen teilte er mit niemanden. Er war wie ein Schatten, der rastlos durch die Stadt irrte, den aber niemand je zu fassen bekam.


Auf Taro Yagur und Antinia kam in den nächsten Jahren jede Menge Arbeit zu. Sie durchliefen nacheinander nahezu alle wichtigen Abteilungen, die mit der Verwaltung der Stadt zu tun hatten. Sie schauten den Richtern über die Schultern und lernten Gesetze auswendig. Oberbaumeister Mitarotas, den Taro Yagur schon während seiner Schulzeit kennengelernt hatte, erklärte ihnen fast jedes Bauwerk der Stadt, vor allem jedoch die Verteidigungsanlagen. Sie beschäftigten sich mit der Wirtschaft Tanyburs und eine Weile zogen sie mit einem Händler von Ort zu Ort, um die Geheimnisse dieses Berufsstandes kennenzulernen. Sie bewachten gemeinsam mit den regulären Wachtruppen die Stadtmauer Tanyburs und arbeiteten in der Heilstation der Stadt mit, wo sie der Oberheiler in die Kunst der Medizin einweihte.

Roskane selbst nahm Taro Yagur und Antinia entweder zusammen oder einzeln mit auf zahlreiche Reisen in die Orte in der Umgebung von Tanybur, damit sie die dortigen Leute kennenlernten. Auch Uru Sandar kam nicht umhin, dem zukünftigen Herrscherpaar seine Tätigkeit zu erklären, was ihm sichtlich Schwierigkeiten bereitete, da er eigentlich keine konkreten Aufgaben hatte. Er war zwar der oberste Berater der Königin, doch nahm sie seine Dienste eher selten in Anspruch.

Gotimar gab sich indes alle Mühe, bei Taro Yagur und Antinia einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Er erklärte ihnen nicht nur alle seine Aufgeben bis ins Detail, er lud sie sogar in sein Haus zu einem großen Fest ein, das er extra für sie veranstalten wollte. Luka Taran, der aufgrund seiner guten Verbindungen über so ziemlich alles Bescheid wusste, was in der Stadt passierte, verhinderte diese Zusammenkunft jedoch. Er ließ Roskane einen dringenden Hinweis zukommen, dass sich Taro Yagur und Antinia in akuter Gefahr befänden: »In der Stadt gibt es Kräfte, die versuchen all deine Pläne bezüglich Taro Yagur und Antinia zunichte zu machen. Mir fehlen noch die konkreten Beweise. Aber seid vorsichtig. Vertraut niemandem.« Gotimar schäumte vor Wut, als seine Einladung unter fadenscheinigen Vorwänden abgelehnt wurde. Doch er konnte nichts dagegen tun. Ihm waren vorerst die Hände gebunden.


Taro Yagur und Antinia bekamen von den Machtspielen nichts mit. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Wann immer ihnen Zeit blieb, kosteten sie ihre junge Liebe aus. Roskane hatte ihnen einen Teil des Palastes zur Verfügung gestellt. Dort verbrachten sie gemeinsam die Abende und Nächte.

Eines Tages lagen sie nebeneinander auf ihrem Fell, während das Feuer ganz in der Nähe vor sich hin brannte und den Raum mit wohliger Wärme füllte. Antinias Blick blieb an einem steinernen Vogel hängen, der weit oben in einer Ecke des Daches eingearbeitet war. Sie überlegte, was das für ein Vogel sein konnte. Doch es gab kaum Ähnlichkeiten zu einem echtem Tier. Wahrscheinlich war es ein Fantasiewesen, dachte sie sich. Plötzlich drehte sie ihren Kopf zu Taro Yagur hin, der ebenfalls die Decke beobachtete.

»Möchtest du wirklich König werden?« frage sie ihn.

Noch vor gar nicht allzu langer Zeit hätte er diese Frage ohne zu Zögern mit einem klaren »Ja« beantwortet. Inzwischen waren ihm jedoch andere Dinge wichtiger. Er hatte sich von Antinias unbekümmerter Art anstecken lassen. Es gab kein Gestern und kein Morgen, nur der momentane Augenblick zählte. Taro Yagur schaute Antinia in die Augen, wobei er leise sagte: »Ich weiß es nicht.«

Nach einer kurzen Gedankenpause wollte er fortfahren, doch Antinia redete dazwischen, wie es ihre Art war.

»Wann hast du meine Mutter das letzte Mal lächeln sehen? Seit ich denken kann, wirkt sie angespannt und ernst.«

Taro Yagur versuchte sich an die Vergangenheit zu erinnern. Was Antinia sagte stimmte, auch wenn er es nie bewusst wahrgenommen hatte. Roskane machte keinen besonders glücklichen Eindruck. Sicher hatte das auch mit Noriks vermutlichem Tod zu tun. Doch mindestens genauso schwer war die Last der Königswürde, die nun schon seit vielen Jahren alleine auf ihren Schultern lag.

Antinia rückte näher an Taro Yagur heran und ergriff seine Hand. »Komm, lass uns von hier verschwinden. Irgendwo hin, weit weg, wo es nur uns beide gibt.«

Während sie das sagte, schaute sie wieder hinauf zu diesem Fantasievogel, der dort oben an der Decke thronte.

»Leih uns deine Flügel, damit wir dieser anstrengenden Stadt unentdeckt entfliehen können.«, sagte sie dann mit verträumter Stimme. Antinia hatte sich mit der ihr fremden Stadt immer noch nicht wirklich anfreunden können.

Taro Yagur nahm Antinia in seinen Arm, während er ihr lächelnd zuflüsterte: »Ich fürchte, mit diesen Steinflügeln werden wir nicht weit kommen.«

Sie lagen in dieser Nacht noch lange nebeneinander und träumten von einer gemeinsamen Zukunft an einem fernen Ort ohne jede Mühsal. Als sie jedoch am nächsten Morgen aufwachten, standen sie wie immer auf und gingen ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Und der Steinvogel, der oben an der Palastdecke gefangen war, schaute ihnen mit seinen toten Augen zu.


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